Eine ungewöhnliche Sichtweise forderte Widerspruch heraus

Rhein-Neckar-Zeitung, 22.02.2010

Prof. Dirk Löhr ist Verfechter der Freiwirtschaftslehre von Silvio Gesell und sieht darin ein Rezept für nachhaltiges Wirtschaften

Von Anton Ottmann

Wiesloch. Zwischen 1990 und 2000 hat sich die Weltproduktion verdoppelt, gleichzeitig verschwinden Jahr für Jahr zwischen 3000 und 30 000 Tier- und Pflanzenarten. Dies sind alarmierende Ergebnisse eines ungezügelten und zerstörerischen wirtschaftlichen Wachstums, das es in der Natur nur bei der Krankheit Krebs gibt. Diese These vertrat Dr. Dirk Löhr, Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftlehre an der Fachhochschule Trier, in seinem Vortrag „Torpediert unser Finanzsystem das Nachhaltigkeitsziel?“. Er war auf Einladung der Bürgerstiftung Wiesloch in das Kulturhaus in Wiesloch gekommen. Ökologie, Ökonomie und Soziales müssten in Einklang gebracht werden, das Zauberwort sei Nachhaltigkeit, aber niemand wisse so genau, wie dies zu realisieren sei.

Technische Wege alleine führten nicht zur Lösung. So hätten die „papierlosen Büros“ trotzdem ein „Baumsterben“ zur Folge gehabt, effizientere Lampen zum
Lichtsmog geführt und bessere Autos zu „längerenWegen“. Es werde zwar beachtet, dass ein Produkt wie ein Auto oder ein Computer energieeffizient sei und möglichst wenig Schadstoffe produziere, seine „energetische Schleifspur“ bleibe aber unberücksichtigt. Eine ganze Reihe von Rohstoffen müssten gewonnen und bearbeitet werden und dies geschehe oft in der Dritten Welt, deren Kohlendioxydausstoß dadurch im gleichen Anteil steige wie er bei uns sinke.

Löhr forderte ein kulturelles Umdenken. Dies sei aber alleine durch moralische Appelle nicht zu erreichen. Soweit konnten die zahlreichen Zuhörer den Ausführungen des ausgewiesenen Fachmanns für „Ökologische Ökonomie“ weitgehend folgen. Seine Ansicht, dass alleinige Schuld am ungebremsten Wachstum, anWirtschafts- und Finanzkrisen, an Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung die Verzinsung von „ruhendem Kapital“ sei, stieß dann aber doch auf Skepsis, wie die lebhafte Diskussion im Anschluss an den Vortrag zeigte.

Löhr macht sich weitgehend die Theorie von Silvio Gesell (1862-1930), Sozialreformer und Begründer der „Freiwirtschaft“ zu eigen. Danach können im vorhandenen Wirtschaftssystem Geldgeber Geld so lange zurückhalten, bis Waren billiger oder die Zinsen attraktiv sind. Dies zwingt Händler dazu, ihre Preise zu senken und Kosten durch Kredite zu decken. Diesen Bedarf lässt sich der Geldbesitzer durch Zins belohnen, ein Einkommen, für das er keine Leistung erbringt. Die Zinseinnahmen verleiht er erneut, so dass seine Einnahmen (ohne Anstrengung) ständig wachsen. Damit werden auf der einen Seite Reichtümer angehäuft und auf der anderen der arbeitenden Bevölkerung Erträge vorenthalten, sodass die Schere zwischen arm und reich immer mehr auseinander klafft.
Um den seit der Erfindung des Geldes bestehenden „Basiszins“ von rund drei
Prozent herabzusetzen, muss nach Löhr Geld in der Hand des Geldbesitzers ständig an Wert einbüßen, damit er Waren und Dienstleistungen kauft, laufende Rechnungen begleicht oder Geld ohne Zinsforderung verleiht. Technisch wäre die Entwertung solchen „Freigeldes“ (Gesell) heute mit einem Magnetstreifen leicht zu lösen. Bei Inflationsgefahr werde es eingezogen, bei Deflationsgefahr ausgegeben.

Die Theorie klingt exotisch und doch muss man feststellen, dass die Notenbanken der Welt in der Finanzkrise nach ihr gehandelt haben. Der fundamentale Einfluss der Geldmenge auf Zins und Preisniveau wurde gesehen und der Zins, nach Gesell, „in einem Meer von Kapital ersäuft“. Damit hat man den Geldfluss erfolgreich wieder in Gang gebracht und eine folgenschwere Deflation verhindert. Auch werde mit der „schleichenden“ Inflation de facto ein Negativzins auf „ruhendes Geld“ erhoben, bestätigte Löhr auf eine entsprechende Anfrage aus dem Publikum. Er stellte auch klar, dass langfristig angelegtes Geld, das zum Beispiel von einer Bank zum Investieren verliehen werde, durchaus mit Zinsen belohnt werden solle.

Der Vortrag von Löhr verblüffte durch eine ungewöhnliche Sichtweise. Sie ließ viele Fragen offen und forderte Widerspruch heraus. Insofern war es sinnvoll am folgenden Tag einen ergänzenden Workshop in der Johann-Philipp-Bronner Schule anzubieten, in dem die Diskussion vertieft werden konnte. Die elf Teilnehmer des Workshops waren so begeistert, dass sie mit Löhr eine Fortsetzung im Sommer vereinbarten.

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